Liebe Forscher:in,
seit den 90er-Jahren basiert der staatliche Umgang mit Drogen auf dem Vier-Säulen-Modell: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Was zu Platzspitz-Zeiten einen Meilenstein bedeutete, ist heute nicht mehr zeitgemäss. Die ersten drei Säulen der Drogenpolitik bleiben unbestritten: Präventionsarbeit ist wichtig und suchtkranke Menschen brauchen weiterhin Unterstützung und Therapie. Repression und Strafverfolgung schadet aber mehr, als sie nützt. Sie hält einen Schwarzmarkt und damit illegale Strukturen aufrecht, welche die anderen drei Säulen und die Gesundheit der Konsumierenden in verheerendem Masse untergraben. Zudem ist heute klar: Für viele Menschen ist der Konsum illegaler Substanzen längst ein ganz normaler Teil ihres Lebens geworden, ohne dass sie Suchtprobleme entwickelt hätten.
Wie also muss eine Drogenpolitik der Zukunft gestaltet sein, die allen Menschen gerecht wird?
Liebe Sabine Pfändler
Herzlichen Dank, dass Sie mich zu diesem wichtigen Thema ansprechen.
Zunächst möchte ich betonen, dass ich meine Gedanken aus meiner Expertise zum 19. und 20. Jahrhundert ableite und mich wissenschaftlich nur wenig mit dem Vier-Säulen-Modell beschäftigt habe. Besonders wertvoll finde ich, dass Sie mir von Ihren praktischen Erfahrungen berichten und mir helfen, zu verstehen, wo die Stärken und Grenzen dieses Modells liegen. Dennoch halte ich dieses Modell für die derzeit beste vorhandene Struktur, um Sucht als gesellschaftliche und gesundheitliche Herausforderung zu behandeln.
Ihrer Kritik an der vierten Säule – Repression – stimme ich voll und ganz zu: Illegale Strukturen werden durch repressive Massnahmen häufig nicht zerstört, sondern lediglich verlagert. Eine Ursache dafür ist die überwiegend nationale Ausrichtung der Strafverfolgung. Zwar existieren internationale Kooperationen (z. B. über Interpol), doch diese reichen nicht aus. Denn sie sind oft wenig wirksam im Kampf gegen den transnationalen, illegalen Drogenhandel, der auch bei uns seine Spuren hinterlässt.
In Afghanistan, Syrien und Zentralamerika existiert ein florierender illegaler Drogenhandel, der eng verflochten ist mit Menschenhandel, Waffenschmuggel und destabilisierenden Machtstrukturen. Oft sind sie ein Erbe der kolonialen Vergangenheit. Es braucht international den politischen Willen, faire globale Machtverhältnisse sowie Demokratie und Menschenrechte zu fördern. Nur so können starke staatliche Institutionen entstehen, die das Gedeihen illegaler Märkte verhindern.
Gleichzeitig müssen wir das gesellschaftliche Verständnis von Sucht vertiefen – durch Aufklärung und öffentliche Debatten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert Substanzabhängigkeit heute nicht mehr als addiction, sondern als disorder – und unterteilt sie in zahlreiche Unterkategorien. Diese Kategorisierung mag klinisch nützlich sein, doch sie zerlegt das Phänomen in Einzelteile, ohne es ganzheitlich zu erklären. Und sie beantwortet kaum die Frage, warum manche Menschen ein Suchtverhalten entwickeln – und andere nicht.
Die aktuelle Politik konzentriert sich vor allem auf individuelle Lösungen: Betroffenenhilfe und Prävention (beides unverzichtbar!) erhalten mehr Aufmerksamkeit als die Bekämpfung der globalen Drogenhandelsnetzwerke. Es braucht jedoch auch eine langfristige, internationale Zusammenarbeit gegen illegale Märkte, um die Ursachen von Drogenmissbrauch zu bekämpfen und gesunden, kontrollierten Drogenkonsum zu fördern.
Wenn Sie weitere Fragen haben oder Literaturhinweise von mir erhalten möchten, können Sie mir jederzeit schreiben. Ich würde mich freuen, Ihre Fragen beantworten zu können.
Herzliche Grüsse
Elife Biçer
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